Viele Menschen kennen es: Ein Buch zu lesen, bereitet keine Probleme – aber weiter entfernte Verkehrsschilder lassen sich schlecht entziffern und vertraute Gesichter erkennt man erst, wenn sie nah genug sind. Lassen sich Gegenstände in der Nähe gut erkennen, erscheinen in der Ferne jedoch verschwommen, spricht man von Kurzsichtigkeit. Fachleute nennen sie auch Myopie.
Kurzsichtigkeit ist keine Krankheit: Sie gehört zu den sogenannten Fehlsichtigkeiten, so wie Weitsichtigkeit, Stabsichtigkeit und Alterssichtigkeit. Vor allem bei sehr starker Kurzsichtigkeit besteht jedoch ein höheres Risiko für bestimmte Augenerkrankungen. Daher sind regelmäßige Kontrollen in einer augenärztlichen Praxis wichtig.
Eine Kurzsichtigkeit entwickelt sich normalerweise im Grundschulalter und nimmt bis ins junge Erwachsenenalter zu. Danach verändert sie sich meist nur noch wenig. Sie lässt sich mit einer Brille oder Kontaktlinsen gut ausgleichen. Für manche Erwachsene kommt auch ein operativer Eingriff wie das Augen-Lasern infrage.
Wie sehr sich die Kurzsichtigkeit bemerkbar macht, hängt von ihrer Stärke ab. Diese wird in Dioptrien gemessen – je weiter der Dioptrien-Wert unter Null liegt, desto stärker die Kurzsichtigkeit. Meist spricht man ab -0,5 Dioptrien von Kurzsichtigkeit. Bei diesem Wert fällt sie vor allem dann auf, wenn eine gute Fernsicht nötig ist, zum Beispiel beim Autofahren.
Ist die Kurzsichtigkeit etwas stärker ausgeprägt, ist sie im Alltag deutlicher spürbar. Anzeigetafeln an Bahnhaltestellen oder die einzelnen Blätter einer Baumkrone lassen sich dann nicht mehr gut erkennen. Kinder haben Probleme, von der Schultafel abzulesen. Um deutlicher zu sehen, blinzeln viele kurzsichtige Menschen häufig oder kneifen die Augen zusammen. In der Nähe sehen sie aber gut, sodass sie beispielsweise problemlos auf dem Smartphone lesen können.
Ab einem Wert von -5 oder -6 Dioptrien sprechen Fachleute von einer starken Kurzsichtigkeit. Dann sieht man bereits ab wenigen Zentimetern vor dem Auge unscharf und es ist ohne Sehhilfe nicht mehr möglich, in normalem Abstand zu lesen oder alltägliche Handgriffe gut im Blick zu haben.
Ohne geeignete Sehhilfe können weitere Beschwerden auftreten:
Vergleich von normaler Sicht (oben) und Kurzsichtigkeit (unten)
Die Gegenstände in unserer Umgebung reflektieren Lichtstrahlen, die in unser Auge fallen. Die Strahlen werden von der Hornhaut und der Augenlinse gebrochen. Dadurch werden sie so gelenkt, dass sie im Augeninneren gebündelt auf einem Punkt wieder zusammentreffen. Dieser sogenannte Brennpunkt liegt normalerweise genau auf der Netzhaut, die den Augapfel von innen auskleidet. Nur so entsteht ein scharfes Bild. Denn auf der Netzhaut befinden sich die Sehzellen. Besonders viele davon liegen auf der sogenannten Makula im Zentrum der Netzhaut – dem Bereich des schärfsten Sehens.
Lichtbrechung im normalsichtigen Auge
Je näher ein Objekt liegt, desto stärker müssen die von ihm reflektierten Lichtstrahlen gebrochen werden, um auf der Netzhaut zusammenzutreffen. Für die Nahsicht spannt sich der innere Augenmuskel (Ziliarmuskel) daher an und verformt die Augenlinse, wodurch sie das Licht stärker bricht. Für die Weitsicht entspannt sich der Ziliarmuskel und die Augenlinse bricht das Licht weniger. Diesen Vorgang des „Scharfstellens“ nennt man Akkommodation.
Ein kurzsichtiges Auge bricht das Licht jedoch selbst dann zu stark, wenn der Ziliarmuskel vollständig entspannt ist. Das kann zwei Gründe haben:
Wird das Licht zu stark gebrochen, liegt der Brennpunkt nicht mehr auf der Netzhaut, sondern davor – es entsteht kein scharfes Bild. Daher sieht man in der Ferne unscharf.
Lichtbrechung im kurzsichtigen Auge mit zu langem Augapfel
Kurzsichtigkeit ist weit verbreitet: Schätzungsweise jede dritte Person in Europa ist kurzsichtig.
Normalerweise setzt die Kurzsichtigkeit im Grundschulalter ein. Sie kann bis nach der Pubertät zunehmen, weil der Augapfel in dieser Zeit in die Länge wächst. Spätestens ab einem Alter von etwa 25 Jahren verändert sie sich meist nicht mehr oder nur noch wenig. Diese Form wird auch „Schulmyopie“ genannt.
Selten besteht die Kurzsichtigkeit bereits bei der Geburt oder schreitet im Laufe des Lebens immer weiter fort.
Eine leichte Kurzsichtigkeit hat meist keine gesundheitlichen Folgen.
Vor allem bei einer sehr starken Kurzsichtigkeit können sich aber die Gewebsschichten im Augenhintergrund verändern. Dann besteht ein höheres Risiko für bestimmte Augenerkrankungen – zum Beispiel einen Grauen Star, eine Makuladegeneration oder eine Netzhautablösung. Diese können die Sehkraft dauerhaft beeinträchtigen, wenn sie nicht richtig behandelt werden.
Treten solche Veränderungen im Augenhintergrund auf, spricht man von einer krankhaften Kurzsichtigkeit. Sie betrifft weltweit schätzungsweise bis zu 3 % der Menschen.
Eine Kurzsichtigkeit lässt sich durch verschiedene Tests in einer Augenarztpraxis oder einem Optikergeschäft feststellen. Mithilfe von Sehtafeln wird geschaut, bis zu welcher Größe man Objekte noch erkennen kann (Sehschärfe). Zudem wird mithilfe spezieller Geräte die Brechkraft der Augen gemessen – also, wie stark die Kurzsichtigkeit ist.
Anschließend wird meist noch ein Sehtest gemacht. Hierzu schaut man durch unterschiedlich starke Linsen und gibt an, durch welche man die Zeichen auf einer Sehtafel am besten erkennt. Bei Menschen, die sich nicht ausreichend mitteilen können, ist dieser Sehtest nicht möglich – etwa bei sehr kleinen Kindern.
Für die Untersuchung können vor allem bei Kindern Augentropfen nötig sein, die die Pupillen weiten. Sie lähmen den Ziliarmuskel und verhindern dadurch, dass sich die Augen an verschiedene Entfernungen anpassen und die Ergebnisse verfälschen. Da ihre Wirkung eine Zeit lang anhält, sieht man danach einige Stunden lang unscharf und ist sehr lichtempfindlich.
Wer diese Augentropfen bekommt, darf für einige Stunden nicht am Straßenverkehr teilnehmen oder Maschinen bedienen.
Häufig untersucht die Ärztin oder der Arzt die Augen noch weiter. Mit einer Spaltlampen-Untersuchung oder einer Augenspiegelung kann sie oder er bis zur hinteren Innenwand des Augapfels (Augenhintergrund) schauen, wo sich zum Beispiel die Netzhaut befindet. Mit einer Ultraschalluntersuchung lässt sich die Länge des Augapfels messen. Weitere Untersuchungen sind meist nur nötig, wenn eine krankhafte Kurzsichtigkeit mit Folgeschäden vermutet wird.
Einfache Sehtests sind bei Kindern Teil der regelmäßigen U-Untersuchungen. Einige Kinderarztpraxen können auch mithilfe spezieller Geräte die Brechkraft der Augen prüfen. Bei einem Verdacht auf einen Sehfehler überweist die Ärztin oder der Arzt das Kind für eine umfassendere Untersuchung in eine augenärztliche Fachpraxis. Vor allem, wenn Eltern selbst kurzsichtig sind, ist es sinnvoll, dass sie ihre Kinder möglichst früh vor der Einschulung augenärztlich untersuchen lassen.
Menschen, die am Bildschirm arbeiten, muss der Arbeitgeber regelmäßige Augenuntersuchungen durch die Betriebsärztin oder den Betriebsarzt anbieten.
Das Risiko für eine Kurzsichtigkeit lässt sich wahrscheinlich senken, wenn Kinder genügend Zeit draußen verbringen und nicht zu lange am Stück auf nahe Gegenstände schauen. Viele Fachleute empfehlen, dass sich Kinder täglich zwei Stunden oder länger im Freien aufhalten sollten. Dann ist es auch kein Problem, länger in einem Buch zu lesen oder auf einen Bildschirm zu schauen – solange man dabei auf einen ausreichenden Abstand und regelmäßige Pausen achtet. Meist wird empfohlen, mindestens 30 Zentimeter Abstand einzuhalten, das Lesen nach 30 Minuten zu unterbrechen und für 10 Minuten in die Ferne zu blicken.
Eine Kurzsichtigkeit lässt sich zwar nicht beseitigen. Brillen oder Kontaktlinsen können aber die zu starke Lichtbrechung des Auges ausgleichen, sodass man trotzdem scharf sieht. Sie sind die häufigste Lösung.
Daneben werden verschiedene operative Verfahren angeboten, um eine Kurzsichtigkeit zu korrigieren. Danach kann man im besten Fall auf Sehhilfen verzichten. Solche Eingriffe kommen jedoch nur für Erwachsene und unter bestimmten Voraussetzungen infrage – zum Beispiel darf die Kurzsichtigkeit nicht zu stark sein. Außerdem gehen sie mit Risiken wie Sehstörungen oder Entzündungen einher und müssen in der Regel selbst bezahlt werden.
Bei Kindern lässt sich das Fortschreiten einer Kurzsichtigkeit etwas verlangsamen, zum Beispiel durch Augentropfen mit dem Wirkstoff Atropin. Sie werden etwa zwei Jahre lang angewendet. In Deutschland sind diese Augentropfen allerdings nicht für die Behandlung von Kurzsichtigkeit zugelassen (Off-Label-Use) und werden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht bezahlt.
Um mögliche Folgeerkrankungen zu erkennen oder zu vermeiden, sind regelmäßige Kontrollen in einer augenärztlichen Praxis wichtig. Wie oft sie nötig sind, bespricht man am besten mit der Augenärztin oder dem Augenarzt.
Tragen kurzsichtige Kinder keine Sehhilfe, kann das zu Problemen in der Schule führen. Denn je nach Stärke des Sehfehlers erkennen sie nicht gut, was auf der Tafel steht, oder tun sich sogar schwer, Bücher und Arbeitsblätter zu lesen. Dadurch können sie sich schlechter auf den Unterricht konzentrieren – manche beteiligen sich dann weniger, andere stören häufiger. Diese schulischen Probleme können die Kinder, aber auch ihre Eltern belasten. Eine Studie zeigte aber, dass sich die Schulleistungen kurzsichtiger Kinder verbessern, wenn sie eine Brille bekommen.
Wird die Kurzsichtigkeit ausreichend korrigiert, macht sie im Alltag normalerweise keine Probleme. Gerade Kinder tragen jedoch oft ungern eine Brille – zum Beispiel, wenn sie dafür von anderen Kindern ausgelacht werden. Es kann helfen, Kinder ihre Brille mit aussuchen zu lassen, damit sie beispielsweise ein modisches Modell wählen können. Außerdem sollte die Brille bestmöglich angepasst werden und angenehm sitzen.
Größere Herausforderungen können entstehen, wenn Folgeerkrankungen – zum Beispiel ein Grauer Star – zu einer Sehbehinderung führen. Betroffene sind dann auf verschiedene Hilfsmittel und die Unterstützung anderer Personen angewiesen. Es kann schwerfallen, dies zu akzeptieren. Verschiedene Hilfen und Versorgungsleistungen erleichtern jedoch den Alltag. Beratungsstellen helfen, mit den Auswirkungen einer Sehbehinderung umzugehen.
Die Augen- oder Kinderarztpraxis ist meist die erste Anlaufstelle, wenn man selbst oder das eigene Kind Probleme mit den Augen hat. Informationen zur Gesundheitsversorgung in Deutschland helfen dabei, sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden und eine passende Arztpraxis zu finden. Mit dieser Frageliste kann man sich auf den Arztbesuch vorbereiten.
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Erstellt am 11.09.2024
Nächste geplante Aktualisierung: 2027
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