Jeder Vierte soll schon mal davon betroffen gewesen sein. Meist nur vorübergehend. Bei manchen aber bleiben die Ohrgeräusche. Was ist der Tinnitus überhaupt, was kann man dagegen tun – und wie kann man lernen, damit zu leben?
Tinnitus ist Phantomgeräusch
Gerade war noch alles gut. Und auf einmal pfeift, zischt, piept, rauscht oder knallt es im Ohr. Es hört einfach nicht mehr auf, egal, was man auch versucht: Ohren zuhalten, ruhig atmen, Luft durch die Nase drücken. Das ist ein waschechter Tinnitus.
Das auch Ohrgeräusch genannte Phänomen ist allerdings nur eine subjektive Wahrnehmung, die einzig und allein der Betroffene selbst hört. Es tritt meist spontan auf, in Einzelfällen kann es aber auch Folge eines Hörsturzes sein. „Der Tinnitus ist ein Phantomgeräusch, ein Wahrnehmungsphänomen, das der Kopf produziert. Ihm liegt kein äußeres Geräusch zugrunde“, sagt Dr. Volker Kratzsch, Ärztlicher Direktor der Rehaklinik Bad Grönenbach und dort auf die Behandlung von Tinnitus spezialisiert. Er selbst ist seit mehr als 20 Jahren von Geräuschen in seinem Ohr betroffen, weiß darum genau um das Leid seiner Patienten. Seine Erfahrung und sein medizinisches Know-how gibt er weiter, bringt Betroffenen bei, wie sie mit dem Ohrgeräusch umgehen können. „Manche Menschen werden ihren Tinnitus komplett wieder los“, sagt er. „Andere aber können im Endeffekt nur versuchen, zu lernen, damit zu leben. Ärzte und Therapeuten können dabei helfen, einen möglichst stressfreien Umgang damit zu finden.“
Stress als Auslöser
Um das zu verstehen, muss man verstehen, wie ein Tinnitus entsteht. „Zuerst einmal: Ein Tinnitus ist keine Erkrankung, sondern ein Symptom“, sagt Kratzsch. „Bei einem Tinnitus liegt immer eine Grunderkrankung vor. Überwiegend sind das Stresserkrankungen oder der Verlust der Hörvermögens.“ Darum ist Tinnitus auch keinesfalls eine typische Alte-Leute-Krankheit, wie oft angenommen. Allerdings sind jüngere Menschen eher typische Stresspatienten, bei Älteren ist es eher das nachlassende Hörvermögen, das die Geräusche auslöst. „In dem Fall versucht ganz grob gesagt das Hörzentrum im Gehirn die fehlenden Frequenzen auszugleichen, indem es sie selbst erzeugt oder die Lautstärke in der wegfallenden Frequenz erhöht. Das kann übrigens auch nach einem Knalltrauma oder nach einem Hörsturz passieren“, sagt Kratzsch.
Ein Hörsturz ist allerdings häufig eine Folge von Stress. „Das passt dazu, dass viele Tinnitus-Betroffene eine zeitlang unter großem Stress oder unter großer emotionaler Belastung standen oder traumatische Erlebnisse hatten“, sagt Kratzsch. Also muss man der Ursache auf den Grund gehen: „Ist nachlassendes Hörvermögen der Auslöser, kann man mit richtig eingestellten Hörgeräten viel machen. Liegt es am Stress, muss man auch da den Grund finden und dort ansetzen. Da ist unter Umständen therapeutische Hilfe gefragt – sehr gut geeignet ist eine Verhaltenstherapie.“ Bei vielen Menschen genügt es aber zum Beispiel schon, wenn sie aus ihrem Belastungsumfeld herauskommen. „Die meisten verlieren ihren Tinnitus dann innerhalb von vier Wochen“, sagt Kratzsch.
So kann man vorbeugen
Was übrigens auch wichtig ist: Viele Ältere meinen, dass sie schlechter hören, seit sie einen Tinnitus haben. Das stimmt aber nicht. Es ist immer genau anders herum: „Zuerst hört man schlechter, das begünstigt dann die Ohrgeräusche. Meist fällt das schlechtere Hören durch die Geräusche nur stärker auf. Weil man sich dadurch stärker auf sein Hören konzentriert.“
Und was kann man tun, um erst gar keinen Tinnitus zu bekommen? Man kann vorbeugen. „Zum Beispiel, indem man sein Gehör pflegt – sich also nicht in der Disco neben die laut dröhnenden Boxen stellt oder bei lauten Veranstaltungen oder in einem Beruf, der viel Lärm mit sich bringt, einen Gehörschutz trägt, um etwa Knalltraumata zu verhindern. Zweitens kann man versuchen, seine Psyche zu pflegen, seine Stressgrenze kennenzulernen und frühzeitig gegenzusteuern, um zur Ruhe zu kommen“, sagt Kratzsch.