Tägliche Pressekonferenzen und Spezialsendungen im TV, viele Informationen erreichen uns täglich auf allen Kanälen. Doch wie empfinden die Menschen vor Ort die Corona-Krise eigentlich? Wir haben mit Dr. med. Felix Gahlen gesprochen, und den haben wir eines Tages beim Aufschlagen der Zeitung entdeckt.
(Foto: Martin Behr, Waltroper Zeitung)
Herr Gahlen, wir sind durch Ihre VIACTIV-Kopfbedeckung auf einem Zeitungsfoto auf Sie aufmerksam geworden. Wo haben Sie das denn her?
Das Kopftuch gab es beim Stadtwerke Halbmarathon 2019. Da haben meine Frau und ich am 10-km-Lauf teilgenommen und es gab irgendwo das Kopftuch dazu. Nun konnten wir es zu wärmenden und schützenden Zwecken gut einsetzen. Die Idee, das Tuch zu verwenden (bzw. ein Tuch dieser Art), kam auf Grund der Kälte. Morgens waren es ja zum Teil nur 3 °C und auch aus hygienischer Sicht machte es Sinn. Bei offensichtlicher Verschmutzung kann man das Kopftuch problemlos desinfizierend waschen und dann wiederverwenden.
Sie sind HNO-Arzt und führen eine Praxis – wie kommt es, dass Sie Corona-Tests durchführen?
Das Corona-Test-Zelt bzw. den Corona-Test-„Drive-in“ hat das Vestnet initiiert. Das Vestnet ist ein Arztnetz mit Kollegen aus Waltrop und Datteln mit dem Ziel, die Kooperation unter den Kollegen zu fördern und Versorgungsstrukturen zu verbessern. Um Abstriche bei Patienten mit Verdacht durchführen zu können, ohne sich selbst, das Personal und andere Patienten zu gefährden, kam schnell die Idee einer zentralen Abstrichstelle. Diese sollte strukturiert arbeiten und nur durch Zuweisung durch den Hausarzt Abstriche durchführen. Somit wollten wir Warteschlangen und Verzögerungen bei der Befundübermittlung vermeiden, was uns auch bisher gut gelingt. An dieser Stelle möchten wir auch der Stadt Waltrop herzlich danken, die die Straße für uns freigab, das Zelt aufbauen ließ und dafür sorgte, dass innerhalb von 48 Stunden ein Starkstromanschluss samt Erdarbeiten zu dem Ort gelegt werden konnte. Durch einen IT-Dienstleister konnte ein sicheres W-LAN-Netz vor Ort eingerichtet werden. Es gab riesige Unterstützung von allen Seiten, so dass innerhalb von drei Tagen die gesamte Infrastruktur geschaffen war. Wir als HNO-Praxis haben unsere Ressourcen, wie EDV-System/Laboranschluss und Personal, angeboten, um die Abstriche vor Ort durchzuführen. Auf Grund der Infektionslage hatten wir den Praxisbetrieb stark heruntergefahren und somit Kapazitäten frei. Alle waren froh, gerade in den ersten Tagen der Krise helfen zu können und nicht hilflos abwarten zu müssen, was nun passieren würde. Auch die Helferinnen unserer Praxis kamen gerne und unentgeltlich, um uns zu unterstützen.
Testen Sie auch in Ihrer Praxis?
In der Praxis werden keine Verdachtsfälle getestet, diese werden zu dem Drive-in umgeleitet. Ausnahmen gibt es, wenn der Verdacht erst im Rahmen der Untersuchung entsteht. Wir versuchen jedoch, Verdachtsfälle bereits vor dem Betreten der Praxis zu identifizieren und somit nicht in der Praxis zu sehen.
Welche Menschen treffen Sie beim Drive-in-Test?
Wir sehen einen Querschnitt der Gesellschaft. Von jung bis alt, Familien, Alleinstehende, Heimbewohner, Pfleger, Ärzte etc.
Wie genau wird das organisiert?
Der Ablauf ist durchdacht: Der Hausarzt aus dem Vestnet stellt die Indikation. Er meldet auf einem eigens geschaffenen, passwortgeschützten Onlineportal den Patienten an. Von uns wird der Patient angerufen und eine Uhrzeit für den Abstrich mitgeteilt. Am Abstrichtag regelt das Ordnungsamt mit einer Terminliste die Zufahrt zu dem Zelt. Dort werden die Patientendaten erfasst und der Abstrich aus dem Rachen entnommen. Das alles als Drive-in. Kein Aussteigen, um Kontakte zu minimieren. Das Ganze dauert circa drei Minuten. Der Abstrich kann direkt vor Ort mit einem Barcode des Labor-Auftrags versehen werden und der Auftrag wird online an das Labor übermittelt. Gegen Mittag werden die Abstriche vom Labor-Fahrdienst abgeholt. Das Ergebnis kommt innerhalb von 24 bis 26 Stunden und wird durch die Praxis dem Patienten mitgeteilt.
Was erleben Sie vor Ort?
Vor Ort erfahren wir vor allem viel Dankbarkeit, aber auch Sorge und gerade am Anfang auch Angst und Nervosität. Für alle ist das eine völlig neue Situation. Es steht im Nirgendwo auf einer alten Industriebrache ein Zelt, Absperrzäune, vermummte Personen, Zufahrtskontrollen. Alles schon sehr wie in einem Film. Die Patienten selber hatten Angst - Angst vor der Situation, dem Ergebnis. Vor allem aber die Ungewissheit, wie es weitergehen würde, belastete anfangs viele. Mittlerweile ist das Ganze jedoch fast Alltag – eigentlich erschreckend, oder? Alle sind sehr ruhig und besonnen. Es gibt keinen Ärger, keinen Stress. Viel Dank und liebe Worte. Das ist ganz toll zu erleben!
Wie ist die Stimmung bei Ihnen und Ihren Kolleginnen und Kollegen?
Wie bei allen gab es und gibt es große Sorgen. Aber diese führten zu einer unglaublichen Welle der kollegialen Hilfsbereitschaft und Kooperation. Das Arztnetz erwachte zu neuem Leben und es wurde unglaublich viel Energie mobilisiert und in die Krisenbewältigung gesteckt. Mit der Zeit haben alle ihre Abläufe an die Situation angepasst. Vieles hat sich verändert, das bereitet auch Sorgen – vor allem auch die finanziellen Auswirkungen sind weiter unklar.
Durch die Corona-Ausbreitung startet das Jahr 2020 alles andere als gewöhnlich. Was, glauben oder hoffen Sie, lernen wir aus dieser Situation?
Ich bin durchaus stolz auf das, was wir in Deutschland geleistet haben und wie wir mit der Situation umgehen! Das gilt für jeden einzelnen Bürger und für unser gesamtes politisches System und unsere Staatsführung. Ich denke, wir werden gestärkt aus der Krise hervorgehen. Es wird viele Opfer geben – Menschen werden sterben, wir werden Angehörige, Freunde, Mitmenschen verlieren. Wir werden teils erhebliche wirtschaftliche Einschnitte erleben, manche Dinge werden teurer, manche wird es ggf. gar nicht mehr geben. Aber ich denke, viele der Veränderungen werden auch gut sein. War es gut, für 19,99 Euro nach Mallorca fliegen zu können? War es gut, für 59 Cent Milch kaufen zu können? Ich denke, der Mensch und die Achtung vor dem Leben werden wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt. Und damit auch die Achtung und der Respekt vor denen, die dem Menschen dienen. Von der Wiege bis zur Bahre – von der Hebamme über den Lehrer bis zum Altenpfleger. Diese Personen bekommen für ihre Arbeit hoffentlich die Anerkennung und den Respekt, der ihnen zusteht. Und mit der Anerkennung ist dann hoffentlich auch eine wirtschaftliche Aufwertung verbunden!
Als Arzt und Praxis sehen wir zuversichtlich in die Zukunft. Wir hoffen, dass das Sozialsystem die Lasten tragen kann und ggf. notwendige Veränderungen nun eingeleitet werden können.
Herr Dr. Gahlen, wir danken Ihnen für das Gespräch. Bleiben Sie gesund.