Wer das Leben intensiver wahrnimmt als andere, gerät oft schnell an seine Grenzen. Wichtig ist, das anzunehmen und damit umzugehen.
„Der stellt sich doch nur an.“ „Was hat sie denn jetzt schon wieder – so laut ist es doch gar nicht.“ „Ach, jetzt ist er wieder empfindlich – man muss wirklich aufpassen, was man sagt.“ Mit solchen und ähnlichen Sätzen wird häufig mit oder über sehr sensible Menschen gesprochen. Meist, weil sie in Situationen, die anderen ganz normal erscheinen, eine Art Notbremse ziehen. Akustisch, sensorisch oder auch optisch. Weil die Bilder zu bunt sind, die Geräusche zu laut oder weil Emotionen extrem intensiv empfunden werden. Der Name für diese besonders empfindsame Art, die Welt wahrzunehmen, lautet Hypersensibilität oder auch Hochsensibilität.
Hochsensibilität ist keine Krankheit
Diese hochsensible Sinnesausprägung ist keine psychische Erkrankung, noch viel weniger eine Macke. Zwar können möglicherweise auch traumatische Erlebnisse oder Dauerstress dazu führen, insgesamt ist sie aber einfach eine Wesensart, der unter anderem genetische Voraussetzungen zu Grunde liegen können, oder spezielle Aktivitäten in Hirnregionen. Im Neokortex zum Beispiel, der unter anderem für unsere Sinneseindrücke zuständig ist, im Thalamus, der zuständig für den Informationsaustausch im Gehirn ist, oder im Hypothalamus, der unser vegetatives Nervensystem steuert, worüber lebenswichtige Funktionen wie Herzschlag, Atmung, Verdauung und Stoffwechsel kontrolliert werden. Wenn der Thalamus zum Beispiel mehr Reize als wichtig einstuft und zur Verarbeitung in andere Hirnregionen weiterschickt, kann es also passieren, dass der Hypothalamus dafür sorgt, dass sich der Puls erhöht oder die Verdauung angeregt wird. Auch bei weniger sensiblen Menschen ist das Zusammenspiel dieser Hirnregionen unter anderem dafür zuständig, dass sie sich zum Beispiel erschrecken, wenn sie einen sehr lauten Knall hören.
Warum Emotionen intensiver wahrgenommen werden
Für Hochsensible muss es jedoch gar nicht erst zum Knall kommen. Sie empfinden Sinneseindrücke von Natur aus intensiver als andere, so dass zum Beispiel schon Musik über Zimmerlautstärke, zu schnelle Rhythmen oder quietschende Geräusche zum Stressauslöser werden können. Die Welt wird mit allen Sinnen intensiver wahrgenommen, weil Reize stärker aufgenommen und tiefer verarbeitet werden.
Erforscht hat das in den 1990er Jahren Elaine Aron, Psychotherapeutin aus San Francisco. Ihr selbst wurde die Diagnose „hochsensibel“ nach einer psychischen Belastung gestellt und sie wollte mehr darüber wissen. Lernen, damit umzugehen, möglicherweise Reize ein- oder ausschalten zu können. Bei ihrer Arbeit mit diesem Thema hat sie unter anderem festgestellt, dass es nicht nur eine Hochsensibilität äußeren Eindrücken gegenüber gibt, sondern dass bei manchen Menschen auch innere Reize wie Gedanken, Körpergefühle und Emotionen intensiver wirken als bei anderen. In dem Fall fühlen sich emotionale Regungen wie Wut, Trauer oder Nervosität um ein Vielfaches intensiver an. Klopft zum Beispiel das Herz eines sehr empfindsamen Menschen vor Aufregung genau so schnell wie das des neuen Partners beim ersten Kuss, kann es sein, dass ein hochsensibler Mensch als unangenehm empfindet, was den anderen beflügelt.
Hochsensibilität kann positiv sein
Hochsensibilität ist aber nicht nur negativ geprägt. Genau wie Wut und Trauer werden auch positive Reize intensiver erlebt. Freude, Glück, Spaß, Musik, alles wird vielschichtig und sehr tief empfunden. Freude über Kleinigkeiten kann lange anhalten, Musik geht im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut und kann nachhaltig sehr positive Gefühle auslösen.
Woran erkennt man Hochsensibilität?
Nicht jeder Mensch, der intensive Gefühle hat, ist aber gleich hochsensibel. Stimmungsschwankungen, bessere und schlechtere Tag, mal mehr, mal weniger Freude über schöne Dinge, Reizlaunen oder Empfindlichkeiten gegenüber Geräuschen, Bildern, Menschen – all das ist normal. Bestimmen diese Gefühle aber das Leben, treten sie in Situationen immer wieder geballt auf, kann ein Gespräch mit einem Arzt oder Psychotherapeuten vielleicht Aufschluss bringen. Besonders dann, wenn zu den bestimmendsten Charakterausprägungen Eigenschaften gehören wie ausgeprägte Fantasie, extreme Nachdenklichkeit und Sinnsuche gepaart mit intensiver Selbstreflexion, intensive Wahrnehmung von Musik, Perfektionismus, langes und extremes emotionales Nachbereiten von Erlebnissen, großes Einfühlungsvermögen und gleichzeitiges Harmoniebedürfnis, weil die Launen anderer Menschen starken Einfluss nehmen, große Empfindsamkeit und bei Leistungsdruck das Gefühl, eingeengt zu werden.
Was tun bei Hochsensibilität
Psychotherapeuten empfehlen, sich immer wieder Ruhepausen zu gönnen. Achtsam mit sich umzugehen, Überlastung frühzeitig zu erkennen und ernst zu nehmen. Wichtig ist auch, sich so anzunehmen, wie man ist – und vielleicht sogar zu versuchen, einen Beruf zu finden, der dazu passt. Wo Kreativität, komplexes Denken, Zuverlässigkeit, Perfektionismus mit einem Hauch von Pedanterie und intensive Reflexion gefragt sind und nicht als störend empfunden werden.